- und kein Schiff mit acht Segeln in Sicht ...
Der sechste Teil, in dem ich zu zeigen versuchen will, dass das Leben natürlich nicht NUR furchtbar war. Dazu bedarf es vielleicht einer genaueren Schilderung der Lebensumstände und des daraus resultierenden Lebensgefühls.
O Timmendorf, bleiche Mutter... Für alle Nicht-Norddeutschen und sonstigen Ostseevermeider, denen der Name so gar nichts sagt, sei erwähnt, dass es sich um ein in Ostholstein an die Lübecker Bucht gekuscheltes verschlafenes Nest handelt, in dem nur während der Badesaison so etwas wie intelligentes Leben möglich ist: Kaum hat nämlich der letzte Tourist diese entlegene Weltgegend verlassen, schliessen 75 % der Läden, fast die gesamte Gastronomie und das, zumindest damals, einzige Kino der Umgebung.
Mich wunderte immer, dass man dem Kaff nicht gleich einen großen Schonbezug überstülpte - "tote Hose" kam jedenfalls schon fast einem Euphemismus gleich.
Direkt durch Timmendorf (eigentlich Timmendorfer Strand) nietet der 54° 00' Grad nördlicher Breite, was die Eingeborenen mit Stolz und tiefer Befriedigung erfüllt, weshalb man diesem bedeutsamen Umstand mit einem Messingband, das sich quer durch den Ortskern zieht, Rechnung trägt.
In den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit geriet diese beschauliche Gemeinde nur einmal, im Frühjahr '45, als das Meer etwa 800 Leichen an den Strand spülte, die anläßlich der Versenkung der Schiffe "Cap Arcona" und "Thielbeck" fünf Tage vor Kriegsende in der Lübecker Bucht den Tod gefunden hatten.
Die Timmendorfer versuchten vergeblich, Kurtaxe zu erheben.
Hier nun rief nach Kriegsende die evangelische Kirche das einzigartige Bildungsinstitut ins Leben, in dem Britta, wie 15 Jahre früher ihr Halbbruder (was sie allerdings erst ewig später erfuhr - aber das ist eine andere Geschichte), von der Schulversagerin auf stromlinienförmig-erfolgsorientiert umfrisiert werden sollte.
Ursprünglich war es, mit eigener Schule in privater Trägerschaft, besonders für Kriegs- und Flüchtlingskinder gedacht, später wurde es dann mehr zu einer Art Wohnheim mit Hausaufgabenbetreuung direkt neben dem Ostseegymnasium, dass das Land Schleswig-Holstein dazu vorgesehen hatte, auch die Gören der Rapsbauern, Fischer und Pensionswirte der Region mit so etwas wie Bildung zu versehen.
Das Internat stellte rund ein Drittel der Schülerschaft, war relativ preiswert und ohne jeden elitären Ruf, so dass die Belegschaft etwa zur einen Hälfte aus Problemkindern, zur andern aus Kids bestand, die aus den unterschiedlichsten praktischen Gründen in fremde Obhut gegeben werden mußten.
Der abgelegene Standort und die widrigen Bedingungen außerhalb der Saison führten dazu, dass das Kollegium der Schule zu einem nicht unerheblichen Teil aus skurilen Persönlichkeiten bestand, von denen nicht wenige schon die eine oder andere Strafversetzung hinter sich hatten, oder nach dem Krieg da irgendwie hängengeblieben waren.
So richtig freiwillig - so schien es jedenfalls - war eigentlich niemand da: Die Eingeborenen nicht, nicht die Lehrer - und wir Internatler schon mal rein gar nicht!
Im Winter hatte das ganze Setting in etwa den Charme einer sibirischen Strafkolonie.
Lustig war es irgendwie schon: Wir hatten einen Erdkundelehrer, der eigentlich nur von Weltgegenden erzählte, die er mit der Wehrmacht bereist hatte, und gern detailreich und blumig schilderte, wie er dreier Finger, eines Teils seiner Schädeldecke nebst einer Hinterbacke verlustig ging, weil er seine Handgranate zu spät geworfen hatte, eine Geschichtslehrerin, die uns ergriffen Lauschenden (Hey! - das hatte wenigstens am Rande irgendwie mit Sex zu tun!) zur Traumabewältigung ihrer Massenvergewaltigung durch die Rote Armee missbrauchte, und einen Chemielehrer, der nicht nur eines Tages den Chemiesaal komplett entglaste, weil er die Herstellung von Nitroglyzerin demonstrieren wollte, sondern auch der besseren Anschaulichkeit halber aus gutem Grund schwer erhältliche Chemikalien wie metallisches Arsen oder roten Phosphor durch die Reihen gehen ließ und sich jedesmal wunderte, wie flüchtig doch selbst feste Stoffe sein konnten, wenn sie nur giftig oder gefährlich genug schienen.
Dann war da noch der Englischlehrer, stets bedroht von der dann dritten Disziplinarmaßnahme, die die entgültige Entfernung aus dem Dienst bedeutet hätte, weil er gern mal mit seinem schweren Schlüsselbund warf oder Schülern die Nase blutig schlug.
Und natürlich mein ganz persönlicher Favorit: Der Lateinlehrer, dessen beispielloser Sadismus es ihm notwendig machte, sich alle straßenseitigen Fenster vermauern zu lassen, weil er es irgendwann leid war, ständig die Scheiben zu ersetzen, die die Schüler ihm einwarfen.
Klein, dicklich und mit Käpt'n-Bünting-Bart stand er der "Segelgilde" vor, einer Art AG, die über eine kleine Flotte Boote verfügte, die unten am Strand im "Segel-Käfig" wohnten.
Segeln allein wäre natürlich lustig gewesen, in der Gilde zu sein bedeutete aber, wöchentlich an einem Konditionstraining teilnehmen zu müssen, das jeder Ledernackeneinheit zur Ehre gereicht hätte.
Wurde man beispielsweise beim Rauchen erwischt, lautete das Urteil meist "Tadel oder einmal Konditionstraining".
Britta wählte nur einmal letzteres, wurde erbarmungslos geschliffen und akzeptierte von da an lieber willig den Tadel.
Im Unterricht herrschte blanke Angst, weil der Pauker nicht nur mega-streng war, sondern sich auch jedesmal ein-zwei Opfer aussuchte, die er verbal drangsalierte. Die Mädels litten besonders unter permanenten, aber leider nicht wirklich justitiablen Schlüpfrigkeiten: Bettina beispielsweise klang bei ihm immer wie Bett-Ina, Susanne wurde zu Sus-Anne (Sus = lat. Schwein).
Gab es keinen Namen zu verballhornen, griff er auf vermeintliche intellektuelle Defizite oder körperliche Unzulänglichkeiten zurück. Mir unvergesslich: "Regina - mit Ihnen möchte ich mich heute über ...
Formen unterhalten... Und auch die ...
Stellungen sollen dabei nicht zu kurz kommen!" ... Har-Har...
Britta lernte bei ihm nicht nur jede Menge Latein, sondern auch, dass es ganz schön doof ist, Frau zu sein.
Jedenfalls, so lange es solche Drecksäcke gibt. Und dass man sein rhetorisches Schwert nicht nur schleifen, sondern auch gleich noch vergiften kann.
Neben all den Mumien, Monstren, Mutationen hatte es schon auch ein paar nette Referendare und andere eher unauffällige Gutmenschen, die wohl einfach keinen attraktiveren Arbeitsplatz gefunden hatten.
Und wenn das alles vielleicht erst mal furchtbar klingen mag - dieses skurile Panoptikum von Lehrerschaft bot auch hohen Unterhaltungswert - langweilig war es jedenfalls nie.
Im Sommer gings - der Stand war schon schön. Auch wenn ich nicht gern badete - ich hätte dazu ja das T-Shirt ausziehen müssen. Wenn wir nicht baden konnten oder durften, vertrieben wir uns die Zeit damit, ein Opfer zu suchen, dass wir dann bis zum Hals eingraben und seinem Schicksal überlassen konnten. Besonders begehrt waren da die bedauernswerten Zeitgenossen, die die damals beliebten "Bay-City-Roller-Hosen" - Jeans, die am Hintern knalleng, dafür am gesamten Bein superweit waren - trugen: die konnte man prima mit Sand befüllen, bis sie, prallen Würsten gleich, ihren Träger vollkommen bewegunslos machten, weil wir sie sowohl unten, wie auch am Bund mit Bändseln verschnürten, die man nur mit einer Schere wieder aufkriegte.
Lustig. Sehr. So lange man nicht selbst den "Zombie" abgeben mußte - so schleppte man sich nämlich dahin, wenn es einem überhaupt gelang, auf die Beine zu kommen.
Direkt hinter dem Internat verlief eine Umgehungsstraße, dahinter lag ein wunderschöner Wald - teilweise fast undurchdringlich verwuchert, teils mit uralten Buchen bestanden. Im Dickicht bauten wir aufwändige Höhlen, was natürlich streng verboten war, weil wir da auch immer Feuer machten.
Auf der Abbruchkante der an dieser Stelle weiter im Landesinneren verlaufenden Steilküste gab es Ruinen, die von einer ehemaligen Flakstellung stammen sollten. Den Hang hinab führte, Gerüchten zufolge, ein Geheimgang, der mit dicken Mauerwerksbrocken verfüllt war und von dem die Fama ging, dass die Nazis da Waffen und Munition vergraben hätten.
Generationen von Internatlern hatten sich da schon die Finger wundgebuddelt - wir natürlich auch. Nicht, dass wir je auch nur einen Uniformknopf gefunden hätten - aber Spaß machte es trotzdem, weil es natürlich auch verboten war.
Bei solchen Gelegenheiten kam noch am ehesten Hanni-und-Nanni-Feeling auf.
Ich verbrachte viel Zeit allein im Wald. Bewaffnet mit Decke und Buch zog ich mich in den Buchenwald zurück, wo ich eine kleine Lichtung kannte, an der stundenlang keine Menschenseele vorbeikam.
Stille. Absolute Stille. Und besonders, wenn die himmelstürmenden silbergrauen Säulen frische, grüne Blätterkronen trugen, ein grün-goldenes Licht, dass man so nur in alten Laubwäldern findet.
Sääähr aufregend auch, weil am aller-aller-verbotensten: das "Aussteigen". Nachts waren die Häuser abgeschlossen - es galt also, sich die Zwergenbelegschaft eines Unterflurzimmers mit Bestechung gewogen oder durch Einschüchterung gefügig zu machen, so dass das Fenster geöffnet und die Schnäbel geschlossen blieben, abzuwarten, bis unser Erzieher durch den reichlichen Genuß von "Underberg" (DAS Frauengold für den Mann, quasi!) hinreichend stramm vor Anker lag, um dann leise hinauszuhüpfen.
Raus ging es recht locker, weil es von der Brüstung bis zur Erde lediglich zwei Meter waren - rein war schwieriger: Räuberleiter, den letzten hievte man mit vereinten Kräften hinauf. Alles natürlich so leise als möglich, weil der Erzieher wohl nur mit den Posaunen des jüngsten Gerichts wiederzuerwecken gewesen wäre, seine Frau, die der Internatsküche vorstand, hingegen Ohren wie ein Luchs hatte.
Ohne die Haarpuschel an den Spitzen natürlich.
Manchmal wanderten wir nur am nächtlichen Strand umher - gelegentlich ließen wir uns aber auch von den örtlichen Päderasten in irgendeiner Spelunke, deren Wirt unser jugendliches Alter Wurst war, freihalten. Mehr oder minder beschwipst UND leise zurückzukraxeln war eine echte Herausforderung - wurde man erwischt drohte sofortige Relegation.
Die freundlichen Päderasten von nebenan taten nicht viel mehr (jedenfalls kamen mir keine weitergehenden Geschichtchen zu Ohren), als uns abzufüllen oder mit sinnlosem Krams zu beschenken; ich fand es trotzdem eklig - deshalb blieb es für mich eine einmalige Erfahrung.
War es zur Zeit meines "Strafantritts" noch recht schwierig, Aufnahme zu finden, blieben dem Internat jetzt langsam die Interessenten weg - Abgänge konnten nur noch selten ersetzt werden.
Das "Haus an der Timme" schlossen sie zuerst, dann mußte die "Abteilung Würz", in der die Jüngsten sonderbehandelt wurden, dran glauben - und schließlich zog "Fräulein Mahlzahn" murrend und knurrend mit all ihren verbliebenen Prinzessinnen aus dem "Mädchenhaus" in die untere Etage des "Neuen Jungenhauses" - sie bestand natürlich auf nagelneuen Sicherheitsschlössern und installierte gewiss heimlich zusätzlich Sprengfallen und Selbstschußanlagen.
Fast alle Oberstufenschüler wurden nun auch im "NJH" konzentriert, weshalb bei uns im Oberflur allerhand Zimmer vakant wurden - Britta gehörte zu den Gewinnern dieser Reise nach Jerusalem und mußte sich jetzt nur noch mit einem, statt mit fünf doofen Jungs herumplagen.
Etwa um diese Zeit muss ich zum ersten Mal über den Begriff "Transsexualität" gestolpert sein. Bis dahin war mir nur "Transvestit" und - als Schimpfwort - "Tunte" geläufig. Das schienen aber Männer zu sein, denen es Spaß machte oder ein Bedürfnis war, sich als Frauen zu verkleiden - ich fühlte mich eigentlich eher als
Mann verkleidet.
Nun hörte ich von Menschen, die als Männer nach Casablanca flogen, dort all ihre Ersparnisse ließen und dann als Frau zurückkehrten. Oder zumindest als etwas ähnliches.
Die OP-Technik steckte in den Kinderschuhen und die Ergebnisse waren wohl entsprechend.
Meine Reaktion war zwiespältig: Einerseits eröffnete das ganz neue Optionen - man konnte also tatsächlich sein körperliches Geschlecht wechseln! Ufff... Mann-Sein war kein unabänderliches Schicksal??
Andererseits bedeutete es große finanzielle Opfer, Schmerzen, Risiken, unbefriedigende Ergebnisse - und vor allem: ein Leben im gesellschaftlichen Abseits. Fast alle "anderen Frauen" landeten offenbar über kurz oder lang im Rotlicht-Milieu, wenn sie nicht da schon das Geld für ihre OP zusammengespart hatten.
An Informationen zu kommen, war mehr als mühsam. Was sich heute problemlos an einem Nachmittag im Netz recherchieren läßt, bedeutete damals endloses Herumsuchen in Bibliotheken und peinliches Herumgefrage.
Was ich herausfand, entsetzte und entmutigte mich.
So wollte ich nicht leben. Ich wollte kein Freak ohne bürgerlichen Job und ohne Familie werden, wollte nicht tagsüber das Gespött der Leute sein und des Nachts Gefahr laufen, totgeschlagen zu werden wie ein herrenloser Hund.
Ich verstärkte meine Bemühungen, diese "unselige Veranlagung", diese "unerklärliche Perversion" loszuwerden, oder doch zumindest so zu kaschieren, dass man mich nicht mehr "Jenny" rief (leitete sich teilweise auch ganz unschuldig von "Jani" ab - ich hieß Jan); ich war es auch leid, die "Maus" zu sein, die man zwar fürchtete, weil sie zunehmend schmerzhaft beißen konnte, aber trotzdem nie wirklich ernst nahm.
Ich hätte so gerne irgendwo dazu gehört, aber all meine Bemühungen verstärkten nur den Zwiespalt - ich begann mich zu hassen.
Ich haßte mich für meine Unzulänglichkeit, für meinen Mangel an Mut, für meine Verschlagenheit, die Verlogenheit und die Skrupellosigkeit, mit der ich die Schwächen anderer aufdeckte und mitleidlos für meine Zwecke nutzte.
Und ich haßte meine "Geschlechtsgenossen" - so sehr, wie ich sie fürchtete.
Das waren die "Feinde"... ALLE Männer waren Feinde - Feinde, unter denen ich leben mußte, denen ich eigentlich nicht gleich werden wollte, es aber zu müssen meinte.
In der Schule lasen wir die "Dreigroschenoper" - und ich empfand tiefes, fast schwesterliches Mitgefühl für die Seeräuberjenny.
Und wenn das Schiff mit den acht Segeln und den 50 Kanonen an Bord unseren Strand angelaufen hätte, mich retten zu kommen... Und wenn sie mich gefragt hätten, wen sie töten sollten... Dann hätte Jenny "ALLE!" geantwortet. Wie aus der Pistole geschossen. Das ist jedenfalls mal sicher!
Ein Jahr später drohte dem Internat die Schließung, ich hatte mich inzwischen schulisch saniert und durfte deshalb nach Abschluß der Zehnten heim.
Britta packte also glücklich ihre Siebensachen und verließ den Ort ihrer Verbannung um viele Erfahrungen reicher, -zig Illusionen ärmer, als hervorragende Schauspielerin und mit allen Wassern gewaschene Soziopathin.
(Hmpf... ich war eigentlich wild entschlossen, diesmal nur die positiven Aspekte, die lustigen und wirklich lehrreichen Seiten herauszustreichen - nun ist das schon wieder so eine dramatische Jammernummer geworden. Pfff... vielleicht krieg ich ja im nächsten Teil die Kurve!)
Schnell noch ein wenig Bratzen-Lyrik:
Hochmut
Ich mag den Hochmut
– vor dem Fall,
ich mag den Stolz,
wenn er sich regt.
Und ich mag Würde,
dann zumal,
wenn man sie
Stück für Stück ...
so peu à peu ...
zu Markte trägt. –
Britta/'92
(viel später und eigentlich in ganz anderem Zusammenhang geschrieben - paßt aber irgenwie, find ich...)
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