Sonntag, 28. Februar 2010

Killer-Bunny

... oder wie man seine Unschuld verliert - ohne selbst zu bluten!

Der dritte Streich nach "Pazivalerina" und "Britta hinter den Spiegeln" - nicht, wie ursprünglich geplant, der letzte; eigentlich mehr ein erklärendes Zwischenspiel.
Ich fürchte, meine "Vergangenheitsbewältigung" wird doch ein wenig umfangreicher...


Der gravierendste Unterschied zu meinem bisherigen Leben bestand darin, dass ich von einem auf den anderen Tag meiner Privatsphäre vollständig verlustig ging.
Wird man in der Schule gemobbt, so ist ein Ende der Qual doch absehbar: Nach Schulschluß kann man sich in seine Höhle verkriechen und sich seinen Umgang in der Freizeit mehr oder weniger selbst aussuchen. Hat man hingegen das Pech, auf einem Internat zu landen, gehen die Uhren anders.
Unsere Schule war direkt nebenan und wurde auch von den sogenannten "Externen", den Gören aus Timmendorf und umzu, besucht. Nach Unterrichtsende war man also lediglich rund zwei Drittel seiner potentiellen Quälgeister los. Der Rest folgte einem im großen Pulk in den Speisesaal. 30 Minuten später verteilte sich alles auf die jeweilgen Häuser - von den ursprünglichen 220 blieben in meinem Fall so etwa 60, mit denen schon mehr zu rechnen war, weil sie sich einigermaßen frei im Haus bewegen und einem auf die Pelle rücken konnten - alle anderen mußten sich beim Erzieher anmelden, wenn sie zu jemandem aus unserem Haus wollten.
Im Haus splittete sich die Meute, schichtete sich nach Alter und Fluren. Sechs bis acht Zwerge pro Zimmer im Unterflur, im Mittelflur vier bis sechs, die Oberstufe residierte im Oberflur in relativ komfortablen 2-3-Personen-Höhlen.
Besucht (meist eher heimgesucht) wurde von oben nach unten: Jüngere gingen nicht ohne Einladung oder guten Grund in die oberen Flure. Blieben also etwa 20 Leute, denen man jederzeit im Flur, auf dem Klo oder im Waschraum begegnen konnte.
Der alles entscheidende letzte Cluster aber war die Zimmerbelegschaft: Den direkten Bettnachbarn KONNTE man nicht entgehen. Die waren IMMER da, rund um die Uhr, mit denen ging man zur Schule, saß beim Essen mit ihnen an einem Tisch, machte gemeinsam Hausaufgaben und wurde mit ihnen zweimal die Woche in die gaskammerartige Gemeinschaftsdusche gescheucht - die konnten auch mitten in der Nacht auf komische Ideen kommen.
Die einzige Möglichkeit, mal für eine kleine Weile allein zu sein, gab es während der Stunden, in denen man "Ausgang" bekommen konnte. Dann konnte man an den Strand oder in den Wald flüchten - was ich tat, wann immer es ging.

Die Lebensqualität bemaß sich in erster Linie nach der Stellung in der Hierarchie.
Die "Alphatiere" hatten außer der Mühe, ihren Rang zu behaupten, wenig auszustehen. Als Alpha galt, wer beliebt, gefürchtet, oder beides war.
Beta- und Gamatierchen mußten sich schon etwas wärmer anziehen, lauerten auf eine Gelegenheit, den Alphas den Rang abzulaufen oder doch zumindest nicht weiter abzusteigen.
Die "Omegas" aber hatten die Hölle auf Erden. Jeder, absolut jeder hielt sich an ihnen schadlos, trampelte auf ihnen herum, um Dampf abzulassen oder einfach nur so.
Sozialer Status in der Aussenwelt half nur bedingt: Reicher Leute Kinder konnten sich in bestimmtem Umfang freikaufen. Die weniger reichen versuchten das auch - im Nebenzimmer hatte es einen Unglückswurm, dessen einzigen Resourcen aus alle paar Wochen von seiner Großmutter geschickten Freßpaketen bestanden. Die lieferte er ungeöffnet ab - seine Zimmer'genossen' fraßen die Hälfte und verteilten den Rest, um sich selbst "Freundschaften" zu erkaufen.
Eine andere Beschwichtigungsmöglichkeit bestand darin, unangenehme Aufgaben zu übernehmen: Ein Dienstplan regelte, wer in der Küche helfen, den Hof fegen, die "Schweineeimer" wegbringen (die reichlich anfallenden Essensreste, mit denen Viehzeug gemästet wurde), Zimmer und Flure saubermachen mußte. Überwacht wurde das vom "SvD", dem (üblicherweise im Oberflur beheimateten) "Schüler vom Dienst". Den aber kümmerte nur, das es erledigt wurde - nicht wer das tat.
Nicht sooo üblich, aber sowohl einvernehmlich, als auch als Resultat von Nötigung möglich: sexuelle "Dienstleistungen". In so eine Position zu geraten, vernichtete zwar jede Chance, jemals wieder Ansehen zu erlangen, verhalf aber wenigstens zu EINEM "Beschützer", der die übrigen Bestien auf Abstand hielt.
Jeder wußte davon, wußte, wer wen wann schlug, demütigte, nötigte - wie hätte man das bei der sozialen Enge auch unter der Decke halten sollen? - und keiner half.
Im Gegenteil: Einmal stigmatisierten Opfern gab man schnell im Vorübergehen auch noch einen mit. Die Erzieher bekamen davon nur Wind, wenn sie zufällig dazu kamen - Petzen zu laufen ging gar nicht, kam sozialem Selbstmord gleich.

Britta hatte nun wirklich nicht das Zeug zum Alphatier, war weder stark, noch sportlich, war nicht reich und sicherlich kein Mädchenschwarm - hatte aber den festen Willen, nicht als Omega zu enden und biß deshalb wild um sich.
Es gab so etwa eine Handvoll Einzelgänger - Mavericks, die nirgends dazu gehörten, die außer Konkurrenz liefen, weil sie irgendetwas an sich hatten, das sie aus der Masse heraushob.
Paria - Unberührbare... Entweder vergeistigte Genies, die in irgendwelchen unerreichbaren Sphären schwebten - oder brandgefährliche, unberechenbare Soziopathen, denen man besser nicht zu nahe kam, weil sie keinerlei Beißhemmung kannten, sich an keine Regeln hielten.
Hier kam ihr jetzt ihre starkentwickelte Empathie zustatten - eigentlich eine schöne, soziale Fähigkeit, die man aber auch hervorragend nutzen konnte, um anderer Leute Schwächen herauszufinden. Nun nur noch das Kaliber der Revolverschnauze gehörig aufgebohrt, letzte Skrupel über Bord (tschüß, Hanni und Nanni - das Leben ist WIRKLICH kein Ponyhof!) - und dann volle Lotte drauf! Auf alles und jeden, der den Sicherheitsabstand nicht einzuhalten tollkühn genug war.
Das führte in der ersten Zeit mehr als einmal zu blutiger Nase und zugeschwollenen Augen - dann hatte auch der Unbedarfteste gemerkt: Das kleine Mistvieh umfuhr man besser weiträumig, ließ es in Frieden, wollte man vermeiden, zum Gespött des Publikums zu werden. Britta vermied nämlich schlau die Konfrontation tête-à-tête, knöpfte sich potentielle Opfer nur vor, wenn genügend Zuschauer zugegen waren, die eine zünftige öffentliche Exekution auch gebührend zu würdigen wußten.

Ich merkte anfangs gar nicht, WIE zerstörerisch meine Kraft bereits war, hielt mich für winzigklein, unbedeutend und ganz und gar nicht dazu im Stande, ernstzunehmenden Schaden anzurichten.
Auch da bedurfte es wieder eines Satori-Erlebnisses, wie seinerzeit mit dem Spatzen.
Im Keller stand ein vielfrequentiertes Tischfußball-Dings, dass ich üblicherweise mied, weil Kickern Ballgefühl erforderte... Gelegentlich ließ ich mich jedoch dazu breitschlagen. Wir spielten zwei gegen zwei - etwa 10 Leute standen um uns herum, sahen zu und kommentierten - natürlich auch meine häufigen Patzer.
Wortführer war O., der etwa so alt wie ich, ebenfalls mit recht spitzer Zunge gesegnet und einer unserer wenigen Realschüler war. Dieser Umstand, sowie die Tatsache, dass er als Scheidungskind mit seiner Mutter in deutlich bescheideneren Verhältnissen als vor der noch nicht lang zurückliegenden Trennung seiner Eltern lebte, machte ihm zu schaffen, wie ich wußte.
Erst versuchte ich, ihn mit gelegentlichen Repliken in seine Schranken zu weisen, während ich weiterspielte; als er aber gar nicht lockerließ und sich mit hohntriefender Stimme darüber verbreitete, dass ich wie ein Mädchen kickerte, platze mir der Kragen: "Klar! Klar spiele ich wie ein Mädchen!", dachte ich, "Aber DU Mistkerl wirst der letzte sein, der herausfindet, WARUM!" - es war an der Zeit, ihn nunmehr meiner vollen Aufmerksamkeit zu würdigen.
Ich brach das Spiel kommentarlos ab, wandte mich zu ihm um und nahm sorgfältig Maß. Er war voll dabei, wähnte sich sicher und die Lacher auf seiner Seite - die ersten Einschläge merkte er nicht einmal. Als ihm aufging, dass die anderen längst nicht mehr über mich, sondern über ihn lachten, war's zu spät - ich hatte flink das Thema gewechselt und konzentrierte mich jetzt ganz auf seinen Kummer über den sozialen Abstieg, erfand haarsträubernde Geschichten über den Stadtteil, in dem er leben mußte, über seine Mutter, die Wohnung, die gesamten Lebensumstände. Er gehörte üblicherweise eher zu denen die austeilten, als dass sie einstecken mußten, war nicht gewohnt, so in die Defensive zu geraten, mühte sich redlich, aber fruchtlos, wieder eine eigene Strategie zu finden.
Schließlich wurde seine Gegenwehr schwächer und stereotyper, er begann sich unter meinen Worten wie unter einer Peitsche zu winden, wich endlich rückwärts in Richtung Treppenhaus zurück - ich und meine feixenden Claqueure immer hinterher. Ich trieb ihn mit Worten die Treppe hinauf, konnte fast körperlich fühlen, wie sie ihn trafen, war wie im Rausch, wurde schneller, zynischer und gemeiner, hielt ihn aber praktisch künstlich am Leben, wo ich ihm längst den rhetorischen Gnadenstoß versetzen oder ihn vom Haken hätte lassen können - ich hatte doch schon längst gewonnen.
Die Hatz endete im Dienstzimmer des Hausvaters - er hoffte wohl, ich würde dort von ihm ablassen, hatte aber die Rechnung ohne das Brittalein gemacht, die wie besoffen von der Schönheit und Kraft ihrer Worte dort erst richtig zur Höchstform auflief. 

Ich muß wirklich sehr, sehr witzig gewesen sein - selbst unser Erzieher, der in der ihm eigenen Einfalt überhaupt nicht überriß, welches Drama sich da vor seinen Augen abspielte, lachte sich halbtot...
O. war längst am Ende - eigentlich schon deutlich drüber - ich wußte das, ich wußte was ich tat, sah sein Kinn verräterisch zucken, hörte das Zittern in seiner Stimme... Keine Gnade... keine Atempause - ich war dafür bekannt, keine Gefangenen zu machen... aber eine derartige Machtfülle hatte ich nie zuvor empfunden.
Schließlich der völlige, totale Zusammenbruch: O. brach in Tränen aus... vor versammelter Mannschaft... vor dem jetzt doch wie vom Donner gerührten Erzieher... er rannte raus, flüchtete die Treppe rauf, gab Fersengeld wie von Furien gehetzt, schloß sich im Klo ein und drohte, sich das Leben zu nehmen.
Drei Stunden redeten sie auf ihn ein wie auf ein krankes Pferd, bis er endlich wieder heraus kam.

Mir trug die Nummer eine gehörige Standpauke vom Internatsleiter, zu dem man mich schleppte, zwei Wochen Stubenarrest und einen Ruf wie Donnerhall ein: Ich war das Killer-Bunny, ich war die Maus die SCHRIE, dass selbst den Tigern das Blut in den Adern gefror.

Ein klein wenig erschrocken war ich schon (Oops - war ICH das??), aber in erster Linie doch mächtig von mir selbst beeindruckt - das schlechte Gewissen kam erst viel, viel später.
O. hat nie wieder ein Wort mit mir gesprochen.

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8 Kommentare:

  1. Guten Morgen, aber warum denn ein schlechtes gewissen? Einmal selbst in die Rolle des Alpha Tieres zu schlüpfen hat dir doch letztlich sicher gut getan, oder? LG Shoushou

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  2. Hmm... ich habe damals meine rhetorische Überlegenheit mißbraucht... das war, wie auf einen Gegner weiter einzutreten, den man bereits zu Boden geschlagen hat.
    Wortgefechte waren an der Tagesordnung - aber so derart gründlich massakriert wurde selten. Verbale Rangeleien zogen - im Gegensatz zu Prügeleien - normalerweise keine Konsequenzen nach sich. Ich hätte keinen Stubenarrest bekommen, wenn ich nicht eindeutig eine Grenze überschritten hätte.
    Schlechtes Gewissen hatte ich in erster Linie nicht, weil ich mich meiner Haut gewehrt und gesiegt habe - ich fühlte mich mies, weil ich es wirklich genossen habe, ihm so wehzutun... :-/

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  3. Ich glaube, Grenzen kann man erst dann wirklich deutlich sehen, wenn man mal einmal ebenso deutlich "übergetreten" ist... Es scheint dich ziemlich traumatisiert hinterlassen zu haben, so liest es sich zumindest.

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  4. Es waren ja nur zweieinhalb Jahre - von 14 bis fast 17. Aber kaum eine Zeit hat mich so stark geprägt. Ich habe mich von der ständigen Angst korrumpieren lassen, mich schließlich vor mir fast geekelt. Wobei ich mich mit ein bisschen mehr Mut wohl nicht so hätte verbiegen müssen.

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  5. das klingt alles sehr einnehmend, also im sinne von räuberisch.. verrätst du mir, warum du als url dann hier aber doch omega-maus hast? ist ja auch deine mail...

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  6. Ach - ich hab irgendwann beschlossen, mich nicht mehr an Rangordnungskämpfen jedweder Art zu beteiligen. Ich habe wirklich nur sehr begrenzten Ehrgeiz, bin aber eigensinnig genug, mich nicht in eine Omega-Position ZWINGEN zu lassen. Wenn ich sie aber selbst einnehme und niemand versucht, mich unglücklich zu machen, kann ich mich darin recht gut einrichten.
    "Maus" ist ein Kosename, der mir schon seit Schulzeiten anhängt - Alex nennt mich auch meist so... Und zusammen klingt es doch schon fast wie eine Huldigung, oder?

    O Mega Maus! ;-P

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  7. Ich gehörte im Internat auch eher zu den "unterdrückten" obwohl ich mich immer gewehrt habe. Ich habe immer versucht mir die Kränkungen anmerken zu lassen oder zu zeigen wie sehr es mich verletzt geschweige denn dass ich meiner Angst erlaubte die Oberhand zu gewinnen, ABER ich finde grundsätzlich, wer austeilt, der muss auch einstecken können und wenn O. die Warnschüsse, die Du ja wohl abgegeben hast ignoriert hat, dann hat er es wohl auch nicht anders verdient.
    Schulzeit ist schon grundsätzlich nichts angenehmes was das angeht, denn Kinder sind bekanntlich grausam - aber ein Internat kann wirklich die Hölle sein!

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  8. Kinder kann man ihre Angelegenheiten nur bedingt selbst regeln lassen - was passiert, wenn sie sich selbst überlassen werden, ist recht anschaulich in "Der Herr der Fliegen" beschrieben.
    Soziales Verhalten muss gelehrt werden - das ensteht nicht einfach von allein...
    Kulturelle Überformung der archaischen Festverdrahtung gilt es zu erwerben und zu pflegen - sonst fällt man nämlich schwuppdiwupp in die Verhaltensschemata der Primatenhorden zurück. :-/

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